Ich will mein Leben zurück! Oder Vielleicht DOCH LIEBER EIN ANDERES? – Raus damit! Zeit, Ballast abzuwerfen

Wir Um-die-50-Jährigen haben im Laufe unseres Lebens viel angesammelt. Kleider, Geschirr, Bücher – viele Dinge, die uns nun manchmal geradezu buchstäblich im Weg zu stehen scheinen und uns plötzlich mehr belasten als erfreuen. Wir haben das Gefühl, dass wir Ordnung in unser Leben bringen müssen und dass es nun Zeit ist, vieles von dem, was wir über die Jahre erworben haben, auszusortieren und loszuwerden. Ist das ein Zeichen dafür, dass wir alt werden? Nein! Wir Um-die-50-Jährigen wissen einfach, was wir wirklich brauchen und was uns einfach nur belastet.

Schweißgebadet und mit schmerzendem Rücken tauche ich wieder aus meinem Kleiderschrank auf. Dieses Mal sind nicht die Hitzewallungen schuld. Beim Ausmisten meiner Kleider habe ich derart viel Energie entwickelt, dass mir nun die Schweißperlen auf der Stirn stehen und mein Rücken mich um eine dringende Pause bittet. Ich richte mich auf, strecke und dehne das strapazierte Körperteil und sehe mich um. Um mich herum liegen drei unterschiedliche Kleiderhaufen.

Haufen Nummer 1 ist der „Ich-weiß-noch-nicht-Haufen“. Das sind die Kleider, die eigentlich noch top in Ordnung sind, die ich aber ehrlicherweise schon lange nicht mehr getragen habe (und wahrscheinlich nie mehr tragen werde). Haufen Nummer 2 ist der „Das-könnte-vielleicht-meiner Freundin-gefallen“-Haufen. Das sind ebenfalls Kleider, die ich schon lange nicht mehr getragen habe, die aber vielleicht der einen oder anderen Freundin noch gefallen könnten. Um ehrlich zu sein, diese beiden Haufen gibt es nur, weil mir so das Ausmisten leichter fällt. Und dann gibt es noch den Haufen Nummer 3: Das ist der „Kann-weg-und-zwar-schnell“-Haufen.

Wie ich mich so strecke, damit sich mein armer geplagter Rücken ein wenig erholen kann, schaue ich mir etwas peinlich berührt die drei Haufen an. Sie sind groß. Der „Ich-weiß-noch-nicht-Haufen“ ist sogar SEHR groß. All diese Kleider führten in meinem Kleiderschrank ein einsames Aschenputtel-Dasein. Eigentlich ganz hübsch, aber wenig geliebt oder beachtet. Der etwas kleinere „Kann-weg-und-zwar-schnell“-Haufen zeigt, was der Grund allen Übels ist. Viel zu häufig habe ich mir ein Kleidungsstück gekauft, ohne es wirklich zu brauchen. Und viel zu häufig habe ich zugegriffen, obwohl ich nicht 100-prozentig überzeugt war. Denn der „Kann-weg-und-zwar-schnell“-Haufen zeigt, dass es nur wenige Kleider gibt, die ich wirklich sehr gerne und somit auch sehr häufig getragen habe. Denn diese Kleidungsstücke sind tatsächlich aufgetragen und haben teilweise schon das eine oder andere geflickte Loch.

Ich schäme mich ein wenig für das Resultat. Was für eine Verschwendung! Mein jüngeres Ich hat unglaublich viel angesammelt: vor allem viele Kleider, die ich einfach nicht mehr brauche. Wenn ich ehrlich bin, habe ich diese nie wirklich gebraucht. Diese Kleider liegen oder hängen schon lange in meinem Schrank und sind eigentlich nur im Weg, wenn ich die Sachen suche, die ich tatsächlich auch anziehe. Wie konnte das nur passieren?

Wenn ich so nachdenke, hat sich mein Kaufverhalten über die letzten Jahre und Jahrzehnte hinweg grundlegend verändert. Als Kind hatte ich nur sehr wenige Kleider. Geld war knapp und „Geiz ist geil“ gab es noch nicht. So war es üblich, dass man die Sachen der älteren Geschwister aufgetragen hat. Mein Pech war, dass ich einen älteren Bruder hatte. Das änderte zu meinem Leidwesen nichts daran, dass ich seine Sachen auftragen musste. Wenigstens gab es auch noch ein paar ältere Cousinen, die mir ab und zu etwas vererbt haben.

Ich bin mir nicht sicher, was das psychologisch mit einem Kind – oder genauer gesagt, mit einem Mädchen! – anrichtet, die Kleider des größeren Bruders auftragen zu müssen. Vielleicht war das der Grund dafür, dass ich sehr gerne und sehr häufig in Klamotten investiert habe, sobald ich dann irgendwann mein eigenes Geld verdiente. Dabei kam mir sehr entgegen, dass Kleider über die Jahre immer billiger wurden, so dass es ein leichtes war, sich monatlich gleich mehrere neue Teile zuzulegen. Über die moralischen Folgen dieses Handelns habe ich damals einfach nicht nachgedacht.

Und heute? Heute macht mich ein voller Kleiderschrank nicht mehr glücklich. Und auch nicht zufrieden. Viele Sachen, oder besser gesagt zu viele Sachen in einem Schrank, empfinde ich mittlerweile als eine Belastung. Und das ist nicht nur bei Kleidern so. Je älter ich werde, desto häufiger überkommen mich ausgiebige Ausmist-Anfälle. Das läuft dann folgendermaßen ab: Ein Schrank wird geöffnet. Alle – wirklich alle – Sachen werden vor den Schrank gestellt oder gelegt. Und dann beginne ich auszusortieren: Brauch ich noch – nach links, brauch ich nicht mehr nach rechts.  Und nicht selten ist der „Brauch-ich-nicht-mehr“-Haufen wesentlich größer als der mit den Sachen, die ich wirklich brauche.

Früher hatte ich durchaus auch immer mal wieder solche Anfälle. Weniger aus einem inneren Bedürfnis heraus, sondern vielmehr aus der puren Not, dass der Platz in den Schränken einfach begrenzt ist. Allerdings hat mein jüngeres Ich nach dem Sortieren das meiste mit der Begründung „Brauch ich vielleicht doch noch“ wieder in den Schrank geräumt. Auch die Sachen, die erst einmal auf der „Brauch-ich-nicht-mehr“-Seite gelandet waren.

Was ist passiert? Ist es ein Zeichen, dass man alt wird, wenn man anfängt, seine Sachen auszumisten? Mir fällt ein, dass mir meine Eltern mit zunehmenden Alter immer häufiger Dinge angeboten haben, die sie nicht mehr brauchten. Fragen wie „Sag mal, brauchst du noch Weihnachtskugeln?“ oder „Wir haben unser Geschirr aussortiert, kannst du noch Gläser gebrauchen?“ halfen mir, meine Schränke zu füllen. Denn ich konnte alles brauchen. Zumindest redete ich mir das damals ein. Ich nahm die ausrangierten Sachen gerne an und wunderte mich über meine Eltern. Diese wiederum freuten sich, ihre Sachen in guten Händen zu wissen und mehr Platz im Schrank zu haben. „Wir brauchen ja nicht mehr so viel.“

Und wenn ich meine Eltern nach ihren Geburtstagswünschen fragte  erhielt ich meistens ein „Wir brauchen doch nichts, wir haben doch alles.“ zur Antwort. Und wenn ich dann etwas schenkte, von dem ich dachte, dass sie das sehr wohl gebrauchen könnten, war die Freude darüber oft eher verhalten. Eines Tages bekam ich sogar von meiner Mutter einen Schal zurück, den ich ihr zwei Jahre zuvor zum Geburtstag geschenkt hatte. „Der Schal ist wirklich schön, aber ich ziehe ihn einfach nicht an. Ich brauche ihn doch nicht.“ Beleidigt nahm ich das gute Stück zurück und freute mich gleichzeitig darüber, beim Schenken guten Geschmack bewiesen zu haben. Und so legte ich das gute Stück gerne zu den anderen 20 bis 30 Schals in meinem Schrank.

Damals war mir das Verhalten meiner Eltern völlig unverständlich und ein klares Zeichen dafür, dass sie einfach alt wurden und vielleicht nicht mehr so auf die Zukunft setzten wie ich als junger Mensch. Heute weiß ich jedoch, dass ich die Beweggründe meiner Erzeuger völlig falsch eingeschätzt habe. Denn nun stehe ich auf der anderen Seite der Ausmist-Haufen. Und ich weiß, dass „Brauch ich nicht mehr“ kein Zeichen dafür ist, dass die noch vor einem liegenden Lebenszeit kürzer wird oder dass man die Lust am Leben verloren hat. Ganz im Gegenteil.

„Brauch ich nicht mehr“ nimmt umso mehr zu, je zufriedener man ist. Je besser man weiß, was wirklich wichtig im Leben ist. Und je mehr man die Erfahrung gemacht hat, dass man im Leben eigentlich gar nicht so viel braucht, um wirklich glücklich zu sein. Und je besser man verstanden hat, dass es auch durchaus eine Belastung sein kann, viel zu besitzen.

Meine Urgroßmutter, so wird berichtet, hat es vor vielen Jahren – lange vor meiner Geburt – folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Ums Nixhau sei’s a ruhige Sach.“ Aus dem Schwäbischen übersetzt heißt das so viel wie: „Wenn man nichts besitzt, muss man sich auch nicht darum kümmern.“ Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Ausmisten so befreiend wirkt. Wenn in meinem Schrank weniger Sachen sind, werde ich nicht von Unnötigem abgelenkt, ich behalte den Überblick und kann  mich aufs Wesentliche konzentrieren. Oder anders gesagt: Ich muss mich nicht mit Dingen auseinandersetzen, die nicht wirklich wichtig sind.

Im übertragenen Sinne trifft das auch auf andere Bereiche unseres Lebens zu. Für uns Um-die-50-Jährigen ist es nicht mehr wichtig, uns mit möglichst vielen Dingen, Bekanntschaften oder Aktivitäten zu umgeben. Wir sind nun erfahren und weise genug, dass wir wissen, was wirklich wichtig ist und was wirklich zählt. Wir können uns nun – in der Mitte unseres Lebens – endlich die wunderbare Freiheit gönnen, auf Dinge zu verzichten und so manches einfach nicht mehr zu tun.

Wir müssen uns keine Kleider mehr kaufen, die wir nicht brauchen und die dann ein einsames Dasein in unserem Schrank fristen. Wir müssen nicht mehr jede Mode mitmachen. Und wir müssen auch keine Freundschaften pflegen, die uns schon lange nicht mehr gut tun. Wir treffen uns nur noch mit Menschen, die uns etwas bedeuten. Wir entscheiden uns für den Beruf, der für uns sinnstiftend ist und der uns wirklich Spaß macht. Und wir müssen nicht mehr jedem Freizeitvergnügen nachjagen, nur weil es gerade angesagt ist oder weil wir sonst vielleicht langweilig wirken.

Denn unsere Zeit ist kostbar. Jeden Tag aufs Neue. Und es ist einfach eine Wohltat, sich auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist im Leben und was uns wirklich weiter bringt. Eine Wanderung mit der Familie, ein liebesvolles Gespräch mit einer guten Freundin, ein ergreifendes Buch, ein Spaziergang durch den Wald, eine ausgiebige Yoga-Stunde… Es können die unterschiedlichsten Dinge sein, die uns gut tun und die wichtig für uns sind. Wenn wir achtsam mit uns umgehen, spüren wir ganz genau, was das für uns ist. Und dann werden wir den Blick frei haben für das Wesentliche und werden erleben, wie sich ein wirklich erfülltes Leben anfühlt.

Eva Ehehalt

Eva ist Ernährungsberaterin, Autorin und Bloggerin. Auf Ihrer Seite findet Ihr viele tolle Tipps und Rezepte:
www.leckervital.com

5 Kommentare zu: »Ich will mein Leben zurück! Oder Vielleicht DOCH LIEBER EIN ANDERES? – Raus damit! Zeit, Ballast abzuwerfen«

  1. Liebe Eva
    Du sprichst mir aus der Seele. Ich bin 54 Jahre alt und ertappe mich in letzter Zeit auch immer wieder beim Ausmisten und Wegwerfen. Bei meinen Eltern war es genauso. Von Schneeketten für mein Auto bis hin zu Pfannen war alles im Angebot. Das ist wohl der Kreislauf, den jeder so ähnlich erlebt.
    Danke für den schönen Artikel
    Herzliche Grüsse Athina

    1. Liebe Athina,
      vielen Dank für deinen lieben Kommentar.
      Ja, du hast Recht. Vieles wiederholt sich von Generation zu Generation. Und erst, wenn man selbst in diesem Alter ist, kann man es verstehen.
      Alles Liebe für dich und herzliche Grüße
      Eva

  2. Das kann ich alles gut nachvollziehen, auch ich habe einen starken Drang, alle möglichen Bereiche auszumisten und habe festgestellt,daß es gut tut Ballast abzuwerfen.
    Liebe Grüße
    Kristina

  3. Liebe Eva,
    obwohl Du Deinen Artikel schon vor zwei Jahren veröffentlicht hast, möchte ich ihn auch noch beantworten.
    Ich werfe auch Ballast ab, nicht nur Sachen, auch Aktivitäten, Kontakte, Verpflichtungen. Mir geht es auch darum, mich mehr und mehr„sinnhaftig“ einzurichten. Es geht mir zunehmend um Qualität, weniger um Quantität. Es gibt mir zunehmend Freiheit und eine neue Lebensqualität. Ich sehe das weniger als Du als eine Frage der Zeit als vielmehr als eine Frage meiner Kräfte, die ich mir mit 58Jahren bewusster einteile.
    Vielen Dank Dir für diesen wertvollen Impuls
    Annegret

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