Abschied nehmen oder Carpe diem

Ich will mein Leben zurück! Oder Vielleicht DOCH LIEBER EIN ANDERES?

Mein Telefon klingelt. Das ist erst einmal nichts Ungewöhnliches. Am Montag Morgen um 8 Uhr allerdings schon. Zumal wenn es sich dabei um mein privates Handy handelt. Es ist meine Freundin Michaela, die gleichzeitig eine ehemalige Kollegin ist. Wir haben jahrelang zusammen in der Personalabteilung eines großen Konzerns gearbeitet. Erfreut und gleichzeitig auch etwas erstaunt rufe ich ihr ein „Guten Morgen! Wie geht es dir?“ entgegen.

„Hast du es schon gehört? Der Schwarz!“ schmettert sie mir entgegen. Der Schwarz also. Ich verstehe gar nichts. „Wenn du mich an deinen Gedankengängen teilhaben lässt, sage ich dir auch, ob ich es schon gehört habe“, antworte ich ihr mit einem Lachen. „Er ist tot!“, höre ich Michaelas entsetzte Stimme. Ich bin schockiert. „Der Schwarz“, eigentlich Jürgen Schwarz, war Abteilungsleiter in dem Unternehmen, in dem wir zusammen gearbeitet haben. Um genau zu sein, haben wir in seiner Abteilung nicht nur gearbeitet, sondern auch viel gelitten.

Über Tote soll man ja nichts Schlechtes sagen. Aber wenn ich ehrlich bin, standen wir uns nicht sehr nahe. Man könnte auch sagen, dass wir ihn einfach nicht leiden konnten. Viel zu oft hat er uns das Leben viel zu schwer gemacht. Mit grenzenlosem Narzissmus hat er es glänzend verstanden, sein ganzes Umfeld zu terrorisieren. Aber es trifft mich, und offensichtlich auch meine Freundin, dennoch wie ein Schlag.

Während Michaela mir ausführlich erzählt, wie und an was er gestorben ist, denke ich darüber nach, warum mich sein Tod so berührt. Vielleicht weil er mit 52 Jahren viel zu jung durch einen Herzinfarkt mitten aus dem Leben gerissen wurde? Weil er nie den Eindruck gemacht hatte, in irgendeiner Weise krank oder angeschlagen zu sein? Weil er eine Frau und zwei kleine Kinder hinterlässt? Auf der anderen Seite passiert so etwas ja durchaus häufiger und berührt mich dann reichlich wenig. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er nur wenige Monate älter ist als ich. Dass es nicht jemand ist, der eh schon alt war und der auf ein langes und erfülltes Leben zurück blicken kann. Und dass ich lange Zeit ein ähnliches stressiges Leben wie er geführt habe. Was mir wiederum zeigt, dass es auch mich hätte treffen können.

Bei uns Um-die-50-Jährigen klopft der Tod nun häufiger an die Tür. Zum einen sind da die Gleichaltrigen, wie „der Schwarz“ die plötzlich einfach sterben. Man kann froh sein, wenn es nicht gute Freunde sind, sondern „nur“ irgendwelche Bekannte, die einem nicht allzu nahe standen. Zum anderen werden jetzt im Freundes- und Bekanntenkreis viele Eltern krank oder sterben sogar. Der Tod eines geliebten Menschen ist schwer zu verkraften und stellt unser eigenes Leben auf den Kopf. Aber auch der Tod von entfernten Bekannten oder den Eltern unserer Freunde löst etwas in uns aus und lässt uns nicht kalt.

Wahrscheinlich liegt es daran, dass uns jeder Todesfall in unserer näheren Umgebung zeigt, wie vergänglich unser Leben ist und dass wir aus diesem schneller heraus gerissen werden können als uns lieb ist. Und je älter wir werden, desto schwieriger ist es, den Gedanken an den eigenen Tod bei solchen Nachrichten zu verdrängen. Ich erinnere mich noch an eine Zeit, als ich Anfang 20 war und plötzlich viele Menschen aus der Generation meiner Großeltern starben – inklusive meiner eigenen geliebten Oma.

Natürlich war mir der Tod dieser Menschen nicht gleichgültig, insbesondere nicht, wenn diese mir nahe standen. Aber es fiel mir auch recht leicht, mich von diesen Ereignissen erfolgreich abzulenken. Schließlich ist für eine Anfang-20-Jährige der eigene Tod noch so weit weg, dass man daran nicht allzu viele Gedanken verschwenden muss. Und das ist auch gut so. Man ist ja gerade dabei, sich selbst zu finden und sein eigenes Leben einzurichten. Die Gedanken sind geprägt von Spaß haben, Karriere, Partnerschaft und Kinderkriegen. Meistens genau in dieser Reihenfolge.

Bei uns Um-die-50-Jährigen sieht das allerdings ganz anders aus. Während man sich als 20-Jährige ganz einfach ausrechnen kann, dass man noch – rein statistisch gesehen – die vierfache Zeit der bereits gelebten zur Verfügung hat, ist diese Rechnung in „der Mitte des Lebens“ nicht mehr ganz so beruhigend. Uns ist bewusst, dass wir aller Wahrscheinlichkeit nach den größten Teil unseres Lebens hinter uns haben. Nur wenige von uns werden es schaffen, die 100 zu knacken. Und diesen Gedanken finde ich ehrlich gesagt einigermaßen erschreckend. Schließlich liebe ich mein Leben und mag mich an den Gedanken nicht gewöhnen, dass über die Hälfte schon vorbei sein soll.

Und wenn ich mir dann noch vor Augen halte, dass ich im Nachhinein betrachtet so manche Lebensabschnitte gerne komplett anders gestaltet hätte, könnte ich mir ob dieser Verschwendung kostbarer Lebenszeit einfach die Haare raufen. Ist mir doch heute sehr bewusst, wie schnell die Zeit vergeht und wie schnell ein halbes (um ehrlich zu sein, ist es weit mehr) Leben einfach unwiederbringlich vorbei ist.

Aber auf der anderen Seite haben wir erleuchteten Um-die-50-Jährigen einen großen Vorteil: Gerade weil wir keine 20 mehr sind, wissen wir genau, wie kostbar jedes Jahr, jeder Monat, jede Woche und jeder Tag in unserem Leben ist. Und wir wissen nur allzu gut, dass es auf jeden einzelnen Tag ankommt. „Carpe diem“ ist für uns keine leere Plattitüde, die sich auf Postkarten gut verkauft, sondern ein Lebensmotto. Uns ist die Endlichkeit unserer Lebenszeit sehr bewusst. Und gleichzeitig haben wir, wenn es gut läuft, immer noch genügend kostbare Zeit übrig, um dieses Motto wirklich zu leben und uns nicht nur jene besagte Postkarte mit dem lateinischen Spruch über den Schreibtisch zu hängen. (Ich gebe zu, ich bin seit über 30 Jahren im Besitz einer solche Postkarte.)

Wir sind geradezu dazu auserwählt, dieses Motto mit Leben zu füllen. Denn wir wissen nicht nur, dass es wichtig ist, im Hier und Jetzt zu leben und jeden einzelnen Tag zu genießen. Wir wissen auch genau, mit was wir unsere Zeit sinnvoll nutzen wollen.  Vorbei sind die Zeiten, als wir uns noch gelangweilt haben, wenn wir nicht pausenlos beschäftigt waren. Vorbei ist die Zeit der vielen Fragezeichen, was wir denn eigentlich vom Leben erwarten. Wir sind nicht mehr bereit, unsere kostbare Zeit mit sinnlosen Dingen zu verplempern. Wir entscheiden viel bewusster, was wirklich wichtig für uns ist und was nicht. Und wir trauen uns auch, uns von Sinnlosem zu verabschieden.

Das kann für jede von uns ganz unterschiedlich aussehen. Für die eine ist es wichtig, endlich den ungeliebten Beruf an den Nagel zu hängen und ihr Geld endlich mit etwas Sinnvollem zu verdienen. Für die andere ist es nun endlich an der Zeit, die langjährige Ehe oder Partnerschaft zu beenden und die verlorene Freiheit wieder zu gewinnen. Es können aber auch ganz andere, viel einfachere und banalere Dinge sein. So sind viele von uns zum Beispiel nicht mehr bereit, ihre Freizeit mit Menschen zu verbringen, die ihnen einfach nichts bedeuten. Oder sich mit Dingen zu beschäftigen, die einfach nur kostbare Lebenszeit stehlen.

Und das ist dann wiederum das Positive an solchen Todesfällen, die uns berühren. Sie zeigen uns in unserem Alltagstrott immer wieder, wie kostbar unser Leben und wie wertvoll unsere Zeit ist. Und sie helfen uns, aus diesem Trott auszubrechen, uns wieder richtig zu justieren und uns auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu konzentrieren. Sie helfen uns, zu erkennen, wo sich in unserem Leben die Zeitverschwendung breit gemacht hat, und uns wieder darauf zu fokussieren, unser Leben wirklich zu leben.

Michaela erzählt mir gerade, wie der Tod des Kollegen mit einer banalen E-Mail im Kollegenkreis kommuniziert wurde, bevor dann alle zurück an die Arbeit gingen. In diesem Moment tut mir das für meinen Ex-Chef richtig leid. Er hatte sein ganzes Leben in den Dienst der Firma gestellt und sein Privatleben dieser komplett untergeordnet. Auch, wenn ich ihn nicht leiden konnte, bin ich der Meinung, dass er es nicht verdient hat, dass man so über seinen Tod hinweg geht.

Aber das zeigt mir auch, dass ich vor ein paar Jahren, genau die richtige Entscheidung getroffen hatte, dieses Unternehmen zu verlassen und meine Leidenschaft zum Beruf zu machen. Dies führte nicht nur dazu, dass ich seither jeden Tag gerne meine Arbeit mache und unglaublich viel Sinn aus dieser ziehe. Es hatte auch den positiven Effekt, dass ich meine Zeit nun einfach freier einteilen kann und mir somit fast immer Zeit für Dinge nehmen kann, die mir wichtig sind. Dazu gehört an allererster Stelle, Zeit für die Menschen zu haben, die ich liebe.

Und da wir in unserem Alter keine Zeit mehr zu verschwenden haben, machen Michaela und ich gleich Nägel mit Köpfen. Wir verabreden uns für den nächsten Tag zum Mittagessen. Schließlich haben wir uns schon ein paar Wochen nicht mehr gesehen. Und der Tod des Kollegen und unser daraus resultierendes Telefonat haben uns mal wieder vor Augen geführt, wie wichtig uns die gemeinsame Zeit ist. „Wir sehen uns dann morgen, pass auf dich auf“, verabschiede ich mich von meiner Freundin. „Du auch. Ich freue mich auf dich!“, kommt aus dem Hörer zurück. Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und lege mit einem Lächeln im Gesicht mein Handy zur Seite.

Eva Ehehalt

Eva ist Ernährungsberaterin, Autorin und Bloggerin. Auf Ihrer Seite findet Ihr viele tolle Tipps und Rezepte:
www.leckervital.com

6 Kommentare zu: »Abschied nehmen oder Carpe diem«

  1. Guten Morgen Eva
    danke an die Erinnerung das Leben vergänglich ist und es wert ist jeden Tag als eine neue Chance zum Glück zu sehen.

  2. Guten Morgen Eva
    Dein Bericht berührt mich sehr und erinnert mich daran das der Tot immer ein Teil des Lebens ist, allerdings leider viel zu sehr tabuisiert ist.
    Wichtig ist wie Du sagst liebevolle und ehrliche Beziehungen zu anderen Menschen zu haben und Lebensmomente zu sammeln.
    und zu hören ich freue mich auf Dich ist doch immer wieder schön.

    Liebe Grüße
    Karin

    1. Liebe Karin,
      vielen Dank für deinen netten Kommentar! Es freut mich, dass dich mein Artikel berührt hat. Und du hast völlig Recht: die liebevollen Beziehungen zu denen, die uns nahe stehen, sind einfach das Wichtigste, was es gibt!
      Herzliche Grüße
      Eva

  3. Liebe Eva
    Deine Artikel spricht mir aus der Seele. All das fühle ich so sehr, es entspricht der vollen Realität. Meine geliebte Mama ist dieses Jahr ganz plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, verstorben . Ich leide …aber es zeigt mir auch , daß man nur das machen sollte was man wirklich aus voller Leidenschaft tut. So, wie du es in deinem ehrlichen Artikel beschrieben hast.
    Danke dafür.
    Liebe Grüße
    Koralia

    1. Liebe Koralia,
      es freut mich sehr, wenn du dich in meinem Artikel wiederfindet.
      Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es ganz besonders schwer ist, wenn die eigene Mutter stirbt. Ich hoffe, dass für dich aus dem Leiden auch etwas Positives entsteht und du das machst, worin deine Leidenschaft steckt!
      Liebe Grüße

      Eva

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert